Jörg Siegele und seine Figuren, „zuständig“ für das Leben
Eine stark farbige Stele mit Fischen, Frauen, Schlangen und an Embryos erinnernden organischen Formen erhebt sich mannshoch im Raum, offenbar beginnendes Leben thematisierend. Zu ihrer Seite eine weitere, deren lackglänzende Bemalung mit Kreismotiven, Köpfen und Bewegungen eher in die Lebensmitte weist. Dann, in wieder anderen Bildfeldern, entstehen Assoziationen an mikroskopische Aufnahmen: mit teils rätselhaften Lebewesen oder Organischem – dies alles ist ritualisiert in der strengen Form seiner stelenhaften Anordnung, als sollen gemeinsam die ewigen Geheimnisse des Lebens oder der Lebenskraft in Bann gezogen werden.
Der Bildhauer Jörg Siegele kennt letztlich nur eine Thematik: Die ist „Das Leben“!
Und dieses fasst er, so weit es im Rahmen seiner virtuosen Phantastik des Figurenerfindens nur irgend möglich ist, wobei er tierisches Ungetüm, wie märchenhafte Drachen oder andere Flugobjekte, ebenso wenig ausschließt, wie etwa den mehrfach auftretenden Seiltänzer oder auch völlig frei erfundenes exotisches Getier.
So macht er beispielsweise möglich, dass gleich zwei „Akrobaten“ übereinander tanzen und neben ihnen fragile Gebilde als eher undefinierbare Flugkörper im Raum schweben. Anderswo geturnt, geschwommen, man hängt am Seil oder badet in der Sonne. Die Einzelfigur von Jörg Siegele verharrt nie im Statischen, stets ist sie bewegt. In zahlreichen Werken erscheinen diese Lebewesen oder Figurationen, so könnte man meinen, in einem eigens für sie geschaffenen Raum, umgeben von einer Art Bühne, in deren definierten Grenzen sie unbändig agieren.
Doch näher betrachtet, entlarvt sich ihr realer Entstehungsprozess als ein völlig anderer: Sie verdanken ihrem „Rahmen“ vielmehr sogar ihre Existenz.
Jörg Siegele hat all seine Kreaturen eben nicht aus einem abstrakten, formlosen Material geschaffen, sondern dies alles zunächst aus Vorgefundenem entwickelt, inspiriert insbesondere von jeweils eher zufälligen Vorgaben. Dieses Vorgefundene sind vor allem blecherne Dosen. Aus diesem sonst alltäglichen und kaum zum Bereich des Ästhetischen gehörigen Material schneidet er in schier unglaublicher Formenvielfalt seine Phantasiegebilde.
Nachdem Jörg Siegele , in der Bildhauerei ausgebildet, zuvor großplastische Arbeiten, überwiegend aus Metallguss, geschaffen hatte, „entdeckte“ er vor einigen Jahren das Blech von Dosen als das Material, das seinem Anliegen als Plastiker am meisten entgegenkommen sollte. Der Zufall wollte es, dass es sich bei dieser „Erstentdeckung“ um einen alten Olivenkanister handelte. Seither hat er gerade solche immer wieder als Arbeitsmaterial eingesetzt.
Zunächst geschah dies in der Form, dass er einzelne Figuren aus dem vergleichsweise geschmeidigen Weißblech herausschnitt, um auf diese Weise eine frei konturierte Figur zu erhalten. Die neueren Arbeiten tendieren dazu, den „Kontext“ der Dose nicht mehr zu eliminieren, um ihren profanen Ursprung nicht länger zu verbergen, sondern gewissermaßen zu transzendieren, als gleichsam imaginäre Bühne oder Illusionsraum, darin das phantastische Leben aus der Vorstellung von Jörg Siegele sich entfalten kann, als gelte es, sich mit Macht gegen diese ursprüngliche Enge der Dose zu sträuben.
Auch, was die farbliche Fassung der Objekte anbelangt, ist für ihn oft das Vorgefundene inspirierend. So scheinen zwischen grell, meist primärfarben übermalten lackige Oberflächen immer wieder Relikte der vorgefundenen Farben und Bildmotive auf. In den neueren Wandreliefs kommt eine weitere Komponente hinzu, nämlich die vexierbildhafte Farbkomposition, die je nach Richtung, inder man sich auf das Objekt zu bewegt, gewissermaßen die Farbe wechselt, so dass das Objekt erst ganz schwarz erscheint, dann ganz blau oder von wieder einer anderen Seite gelb. Insofern ist hier der Betrachter selbst als „Bildner“ einbezogen, denn abhängig von seiner eigenen Bewegung verändert sich auch das Erscheinungsbild des Objektes und potenziert auf diese Weise dessen erzählerischen Reichtum.
Das Altmaterial Blech avanciert bei Jörg Siegele mithin zum bevorzugten Medium, weil es ihm sowohl als Bildträger, wie auch als schneidbarer Stoff für reliefartige Figuren dienen konnte und überdies auch noch als „Baumaterial“ für plastische Objekte. Seine Werkzeuge variieren mit der jeweils gegebenen Dicke der unterschiedlichen Bleche, respektive der Härte des jeweils bearbeiteten Stoffes und reichen vom Schneidbrenner bis zur zweckentfremdeten Nagelschere.
Auch für seine neuesten Arbeiten gilt noch, dass er sie aus mittlerweile gezielt gesammelten Lebensmitteldosen schafft. Wie beschrieben, belässt er einige Partien der farbig bedruckten Dosenoberflächen als Bildteil in seinen Werken sichtbar, teils werden die Bleche aber auch überarbeitet, u.a. auch, indem er mit dem Schneidbrenner auf das Metall „zeichnet“ und seine neue Form regelrecht einbrennt. Nimmt man diesen Vorgang im Entstehen des Kunstobjektes als symbolhafte Handlung, kommt dabei gewissermaßen eine magische Qualität des Alltagsgegenstandes zutage, die vordem weder zu sehen noch sonstwie zu erleben war.
Ein in gewisser Hinsicht vergleichbarer Zugriff auf industrielle Produkte, in künstlerischer „Zweit“-Verwendung als objet trouvé oder als Bildmotiv, ist aus der Pop Art sowie aus dem sogenannten Fluxus geläufig. Roy Lichtenstein, Andy Warhol, Jean Tinguely oder z.B. Edward Kienholz, Arman, Claes Oldenburg und auch Robert Rauschenberg schockierten in den 60er Jahren damit, dass sie banale Gegenstände der Alltagswelt in die Sphäre der Kunst erhoben. So erzielte damals bereits eine ganz gewöhnliche Suppendose, nämlich die der Tomatensuppe von Campbell’s, das hohe Ansehen von Kunst, und zwar 1965, gemalt von Andy Warhol in New York, bis heute von größter Popularität. Geradezu urtümliche, magische Kräfte scheinen wirksam zu werden, wenn Jörg Siegele nun seine Werke schafft. Ein solcher Eindruck verstärkt sich nochmals, sobald er seine einzelnen Werke zu Aktionsgruppen arrangiert, denn er stellt seine Figuren nicht bloß auf, sondern verwandelt mit deren Hilfe zugleich den Raum selbst. Wenn die Figuren, Objekte, Bilder und Plastiken auch einzeln für sich bestehen und behaupten können und könnten, bilden sie im Arrangement einer Ausstellung zugleich Teil einer Installation.
Durchwandelt man als Betrachter solche „Kunstgärten“ des Jörg Siegele, begegnet man seltsamen Tieren, menschlichen Figuren in vielfältiger Aktion oder sonstigen zugleich fremdartigen wie vertrauten Wesen. Zumeist handelt es sich um erfundene Spezies, die dennoch in Bezug zum Menschen stehen, und zwar insbesondere zu seiner Phantasie oder Imagination. Das funktioniert bei Jörg Siegele vermutlich ähnlich, wie dies aus den phantastischen Tierwelten der Antike geläufig ist. Wo schnelle Raubtiere noch fliegen können und das kräftige Männchen sein Kleines noch schützend an seiner Hand hielt, da bewegt sich die Phantasie von Jörg Siegele, seine persönliche Philosophie ebenso mit Erlebtem wie mit Gewusstem oder Erahntem verbindend. Aus kunsthistorischer Sicht erstaunlich daran ist Siegeles müheloses Verbinden zweier sich sonst allzu oft fremd bleibenden Kunstgattungen, der Plastik und der Malerei.
Seine älteren Arbeiten aus der Mitte der 80er Jahre, noch ganz auf die Bildhauerei konzentriert, lassen erkennen, dass seine Themen von heute dort bereits angelegt sind: Fabelwesen, Tierisches und dahinter stets zugleich erahnbar das seltsamste aller Wesen, der Mensch.
Allerdings ist Siegele weit davon entfernt, dem Betrachter das Philosophieren über all dies abzunehmen, ganz im Gegenteil. Wenn er selbst lakonisch verlautbart, es gehe „bloß“ um „leichte lockere Stimmung“, ist Vorsicht geboten! Jörg Siegele vermeidet es nämlich tunlichst, seine Arbeiten in erklärende Worte zu verpacken. Andererseits ist gerade den menschlichen Figuren in seinem Werk ein Charme eigen, den man ganz ohne große Erklärungen zu verstehen meint. Dies resultiert aus Siegeles Vermögen, archetypische Befindlichkeiten des Menschen in Formen zu bringen, deren Bedeutung selbst oder gerade einem Kind nicht minder verständlich ist, als dem Erwachsenen.
Viele seiner Figuren sind wie Bildzeichen lesbar. Ihre Aussage erschließt sich zumeist über eine Bewegung, die im selben Moment abläuft, und die ist nicht selten der Tanz. Dem Bildhauer ist im Anlegen solch figürlicher Kompositionen stets auch die statische Rückversicherung von Belang, ein Austarieren der Gewichte, erzielt zumeist durch einfaches Ausprobieren im Verein mit einem zuvor erdachten Konzept. Auch Tanz wieder meint bei Jörg Siegele Lebensfreude und das Leben schlechthin. Ohne dabei theorielastig zu sein, erfasst er intuitiv die ursprüngliche Bedeutung von Tanz, nämlich als Interpretation von Rhythmik und Bewegung.
Damit korrespondieren gängige Auffassungen in der Musiktheorie, nach denen Rhythmus als elementar für jede Art von Musik, gleich welchen Kulturkreises angesehen wird: „Am Anfang war der Rhythmus“ und, so könnte Jörg Siegele hinzufügen: durch ihn auch der Tanz, wobei seine Tänzer in der Nachfolge historischer Formen des Ballets gesehen werden könnten, da sogenannte „extrements“, Balletaufführungen mittelalterlicher Tanztradition gemäß, in ähnlicher Weise bereits unabhängig von dramaturgisch vorgegebenen Themen waren und freie Interpretationen von Lebenssituationen darstellten. Noch bis in die Zeit Ludwig des XIV. und seinem „Ballet de nuit“ wurden solche Tanzdarbietungen zum Anlaß genommen, gleichermaßen über die Wissenschaft und freien Künste zu reflektieren, wie auch über die Natur, die Bewegung der Sterne und deren Verlauf, nach dem letztlich „alle Lebewesen tanzen“, woraus Molière übrigens in „Bürger als Edelmann“ den Umkehrschluß zieht, dass alles Unglück des Menschen, alle Schicksalsschläge und Niederlagen letztlich nur daraus resultieren, „dass man nicht zu tanzen versteht“.
Jörg Siegeles Kreaturen trifft dies mitnichten, sie tanzen für ihr Leben. Fast unglaublich die Phantastik der einzelnen Szenen: da passiert es beispielsweise, dass eine Figur auf dem Kopf ein eckiges Gebilde balanciert, darauf zugleich ein weiterer tanzt, noch dazu mit einem außerordentlich dicken Bauch. Oder zwei andere Figuren schweben frei im Raum, sich festhaltend allein an einem äußerst fragilen, noch dazu abstrakten Gebilde, das wiederum selbst schwebt und alles in allem einen (allein der Phantasie denkbaren) einzigartigen Flugkörper ergibt. Tanz steht hier für den Charakter des Transistorischen von Bewegung „so eine fundamentale Auffassung des Menschen seit Urzeiten“ ist wiederum nichts anderes, als Leben. Staunen über das ewig Gültige. Aber wie darüber reden? Nicht reden, aber tanzen, schauen, tanzen. Es geht, so scheint es, allein um das Erzeugen einer persönlichen Vision dessen, was „wichtig“ sein könnte, und zwar insbesondere was das Innerste betrifft, ist letztlich nur das. Jörg Siegele bekennt sich dazu, freilich ohne das selbst mit Worten ausdrücken zu wollen. Aber seine Kunst verrät genau dies, im Spagat zwischen dem ewig und nur jetzt, augenblickhaft Gültigen. Mit spielerischer Leichtigkeit vorgetragen, konfrontiert er uns insofern mit Archetypischem. Dabei „übersetzt“ er das Gemeinte nicht unbedingt in unser heute gebräuchliches Vokabular, sondern reaktiviert eine Bildsprache, die an archaische Zeichen erinnert, wie etwa die Bildsymbolik ägyptischer Hyroglyphen oder die Bilderschriften der Azteken und Mayas, die auch schon ähnlich phantastische Abbildungen von Lebewesen und gegenständlichen Begriffen mit freien, also abstrakten Ideenzeichen kombinierten.
Die gegenständlich zu deutenden Szenerien von Siegele sind nicht bloß formal solchen Vorläufern zuzuordnen, sondern genauso auch inhaltlich. Ist hier nicht eine Jagdszene zu sehen oder dort ein Kampf, ein ritueller Tanz, eine Paarungsszene, die symbolträchtige Schlange, ein Vogel oder die Sonne? Dann wieder ganz eindeutige Bilder, wie das mit zwei sich gegenüberstehenden Figuren, beide mit erhobenen Händen, wobei der eine mit einer bedrohlich erhobenen Keule bewaffnet ist. Solche an archaische Formeln erinnernde Bildzeichen vitalisiert Jörg Siegele zu phantastischen Erzählungen, wobei, ähnlich wie in den alten Bildschriften, stets eine gewisse Rätselhaftigkeit gewahrt bleibt, d.h. die Handlung der Akteure von Jörg Siegele verwahren sich vor einer eingehenden, konkreten Umsetzung in das Wort, das allein eine linear fortschreitende logische Entwicklung zuließe. Somit erhält er seinen Kreaturen ihre schillernde Vieldeutigkeit. Und es werden mit ihnen im zivilisationsmüden Europa am Ende des 20. Jahrhunderts Idole zu neuem Leben erweckt, deren vorgeschichtliche Wurzeln vielleicht nochmals weiter in die Menschheitsgeschichte zurückverweisen und aus fremden Naturvölkern kommen könnten.
So sehr in Jörg Siegeles Gestalten die Proportionen des Menschen sich verbiegen, schematisierend reduzieren oder gar verzerren mögen, wollen sie doch dessen Wesen erkunden, und legen Inneres frei. Wenn die Idole Jörg Siegeles auch nicht mehr wie ihre Vorfahren als Kultbilder eingesetzt werden wollen, ist ihnen doch die Kraft eigen, Elementares des menschlichen Lebens neu ins Bewusstsein zu bringen. So macht er auch den Betrachter zum Zeugen des sich gewissermaßen zeitlos reproduzierenden, stets neu beginnenden Lebens, vom Zeugungsakt angefangen, zusammen mit embryonalen Wesen, zwischen Fischen und Bäumen.
Jörg Siegele bildet Symbiosen zwischen dem Vorgefundenen und der phantasierten Form. Auf diese Weise entführt er uns in die Sphäre des Mythischen, Kultischen, Märchen- und Rätselhaften, wo es neben Zirkusakrobaten noch Geister, Schlangen, Kentauren, wilde Tiere und letztlich auch ganz einfach nur Menschen gibt. Sie alle sind in Bewegung, ich denke: als Ausdruck ihres Seins. Dabei wird bewusst vermieden, den Betrachter auf bestimmte Assoziationen festzulegen. Jörg Siegeles Metier ist vielmehr das Spielerische. Er hat der Phantasie einen Freiraum geschaffen, den manch anderer angesichts alltäglich drückender Realitäten und Zwänge allzu leicht verloren glaubte. Zugleich hält er dabei der Gesellschaft, in der er lebt, einen Spiegel vor. Und so geschieht es dann: ein großer blauer Tiger greift zur Sonne, und inmitten von tanzenden Paaren, Minotaurus, einer Seiltänzerin oder einem Hornbläser findet man sich plötzlich selbst.